Weimarer Labyrinth

 

 

Labyrinthe gehören zu den ältesten Symbolen unserer Kulturgeschichte. Auch wenn das Wissen um ihre ursprüngliche Bedeutung im Dunkeln liegt und ihre Herkunft rätselhaft ist, so gelten sie doch bis in die Gegenwart als spirituelle Orte, als Heilstätten der Seele.

 

Aus der Antike strahlt uns ein besonders schöner Labyrinth-Mythos entgegen. Der griechische Prinz Theseus tötete den Minotaurus, ein schreckliches Mischwesen aus Mensch und Stier, welches in einem Labyrinth eingeschlossen war. Den Weg zurück fand Theseus jedoch nur mit Hilfe des berühmten Fadens der Ariadne.

Im christlichen Mittelalter stand das Labyrinth für das Streben nach Gott. Der Ariadnefaden wurde als Pilgerweg des Menschen durch sein Leben gedeutet, ein Pilgerweg, der nicht geradlinig war, aber weder Gabelungen noch Kreuzungen aufwies. Ein Labyrinth zu begehen, versprach Erlösung und ersetzte den Armen die Pilgerreise ins Heilige Land.

Das Weimarer Labyrinth wurde nach einem Labyrinth aus dem zehnten Jahrhundert angelegt, welches auf einem Pergament abgebildet ist und in der Stiftsbibliothek in St. Gallen (Schweiz) aufbewahrt wird. Es führt damit an den Anfang einer christlich spirituellen Tradition, die in der Gotik in einer Vielzahl begehbarer Labyrinthe in Klostergärten und Kathedralen einen Höhepunkt fand.

Das Weimarer Labyrinth hat einen Durchmesser von 50 Metern und eine Weglänge von fast 1.000 Metern. Es besteht aus über 1.000 Weinstöcken, welche in zwölf konzentrischen Kreisen mit einer Achse angeordnet sind und elf Gänge bilden. In drei Mäanderschleifen führen diese Gänge zum Ziel, dem Zentrum des Labyrinths. Der Pilger muss immer wieder das Zentrum umrunden. Auf der Achse kann er jeweils um drei Gänge nach innen rücken, dann zweimal um einen Gang nach außen, dann wieder zweimal drei Gänge nach innen und so weiter.

Um vom geheimen Sinn der Wissenden zu kosten, sollte man ein Labyrinth beim ersten Mal zu zweit begehen. So bekommt man ein Gefühl dafür, wie viele unterschiedliche Blickrichtungen möglich sind, obwohl man auf dem gleichen Weg unterwegs ist. Man spürt, wie nah man sich mitunter sein kann, auch wenn man unterschiedlich weit vom Ziel entfernt ist oder gar das Ziel aus dem Auge verliert, um es dann doch ganz plötzlich zu erreichen.

Dass auch Goethe ein Labyrinth zu zweit begangen hat, kann als gesichert gelten, denn er beschreibt uns in nachfolgenden wunderbaren Zeilen eine anrührende labyrinthische Erfahrung der Liebe.

„Ja, die Augen waren's, ja, der Mund
Die mir blickten, die mich küßten.
Hüfte schmal, der Leib so rund
Wie zu Paradieses Lüsten.
War sie da? Wo ist sie hin?
Ja! sie war's, sie hat's gegeben,
Hat gegeben sich im Fliehn
Und gefesselt all mein Leben.“

(Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan)

Auszug aus der Thüringer Allgemeinen